Wir haben im Kapitel 1.1 gelernt, was die Historiker über die Pflanze Silphium schreiben. Die Folgenden 13 Aussagen sind Bedingung dafür, ob Engelwurz das sagenhafte Silphium sein kann.
- Die Wurzel war teilweise über eine Elle lang. (römische Elle = 44,4cm)
- Die Wurzel hatte eine schwarze Rinde.
- Ihr Wurzelkopf, ragte knapp über die Erde.
- Aus ihr wurde ein Milchsaft durch Anritzen gewonnen.
- Auch der Stengel lieferte eine Art Saft.
- Der zentrale Stengel war fast so dick, wie der des Narthex. (=Riesenfenchel. Was deutlich dünner ist, als alle Münzdarstellungen, bis auf die frühesten. (Nachzulesen in diesem Bild)
- Die Blattstiele sollen rötlich gewesen sein.
- Die Blätter gleichen dem Sellerie.
- (entweder) die Samen oder die Blätter waren goldgelb, zum Zeitpunkt der Reife.
- Die Samen waren platt oder blattartig.
- Die Samen fallen beim Aufgang des Hundssterns. (Das ist der Sirius, Ende Juli)
- Silphium ist Zitat: „jährig, wie der Narthex“. (Also mehrjährig. Der Narthex / Riesenfenchel braucht bis zu 5 Jahre bis zur ersten Blüte)
- Die Pflanze war nicht kultivierbar. (Alle Ansiedlungsversuche in Griechenland sind gescheitert)
Arbeiten wir die Liste einfach mal ab.
Länge der Wurzel
Die Wurzel des Silphiums soll über 40cm gemessen haben. Dazu ein Zitat von der Schwedischen Universität für Agrarwissenschaften, namentlich Madeleine Kylin. Auf Seite 40 dieser Dissertation, die sich ausschließlich um Engelwurz dreht, findet man Folgendes:
„Bei der Ernte von Wurzeln sind nach deutschem Standard maximal 5% überständiges Pflanzenmaterial erlaubt. Die Wurzeln sollten etwa 50 cm lang sein und die Adventivwurzeln etwa 30 cm lang und etwa 1 cm dick (Heeger 1989).“
Was damit bewiesen wäre.
Wurzelfarbe
Der hochverehrten Madeleine Kylin verdanken wir auch die Abbildung einer abgebrochenen Engelwurz-Wurzel, sowie weitere geprüfte wissenschaftliche Aussagen. Auch dieses Foto mußte ich illustrieren, das Original befindet sich auf Seite 14 im PDF dieser Master- oder Doktorarbeit.
Tatsächlich ist die Wurzel nicht wirklich schwarz. Aber immerhin so dunkel, daß man die Farbe als solches deklarieren könnte. Keiner der Historiker hat je eine gesehen. Ich auch nicht, denn die Wurzel meines Exemplars war bereits weggefault, als ich die abgestorbene Pflanze aus dem Topf geholt habe. Aber dazu später mehr.
Wurzelkopf
Zitat aus diesem botanischen Werk:
„[die Engelwurz] wird im Frühjahre des zweiten Jahres gegraben und besitzt bei den, ausschliesslich im Handel befindlichen, cultivirten Wurzeln einen cylindrisch länglichen, bis 5 cm dicken, oberseits runzlig geringelten, graubraunen, mit Blattresten besetzten Wurzelkopf […]“
Hier können Sie sich einen solchen Wurzelkopf anschauen (den Link hier einfach kopieren und in ein neues Browserfenster einfügen):
www.alamy.de/stockfoto-arznei-engelwurz-echten-engelwurz-blatt-blatter-vor-der-blute-angelica-archangelica-erzengel-garten-angelica-heiliger-geist-wilder-sellerie-norwegisch-133328543.html?imageid=31F90F85-7DBE-45F4-BEC1-1B39F6EF7373&p=184580&pn=6&searchId=b22da8811bce6346b1adb3acdf8e1048&searchtype=0
Milchsaft
Aus „Grundriss der Pharmakognosie des Pflanzenreiches“ von 1832:
„Der Angelicabalsam ist frisch gelblich und starkriechend, getrocknet stellt er ein
Gummiharz dar, welches erhalten wird, wenn im Frühjahr die Wurzel über der
Erde verwundet wird; kann in guten Wurzeln dadurch nachgewiesen werden,
daß er, wenn man sie zwischen den Fingern drückt heraustritt„.
Und noch ein Zitat daraus: „verdirbt leicht„. Genau das war auch das Problem beim Silphiumsaft. Er mußte mit Mehl oder Kleie eingedickt werden, um nicht zu verderben.
Theophrast schreibt wörtlich:
„denn der rohe Saft verdirbt und fault mit der
Länge der Zeit. Es bereiten ihn aber, die ihn nach
dem Piräeus bringen, auf folgende Art. Nachdem
sie ihn in Geschirre gethan und mit Mehl vermischt haben,
so schütteln sie es geraume Zeit.“
Stengelsaft
Bei meinem Exemplar floss gar nichts aus dem Stengel. Einen Hinweis darauf woran es gelegen haben könnte, gibt der folgende Textauszug – nämlich am Zeitpunkt !
Darüber hinaus verraten die historischen Texte nicht, ob der Stengelsaft ebenfalls durch Anritzen gewonnen wurde. Im Gegensatz zur Wurzel könnte er einfach ausgepresst worden sein. Das wäre ausgespochen logisch. Denn um einen einzelnen Stamm für die finale Ernte (und gutes Wurzelwachstum*) zu erhalten, mußten alle anderen Blütenstengel entfernt werden. Da stellt sich für die Sammler, Produzenten oder Landbesitzer die Frage; „Esse ich die tausenden Stengel selber oder verkaufe den bedeutend teureren Saft nach Rom?“.
Denn selbst die ausgepressten Stengel dürften noch ihren Wert auf den lokalen Märkten gehabt haben. Sei es als Lebensmittel für die Bevölkerung oder einfach als Viehfutter. Eines, das laut den Chronisten „das Fleisch der Schafe und Ziegen ungemein wohlschmeckend machte“.
* Die Engelwurz stirbt erst ab, wenn sie geblüht hat. Schneidet man diese Stengel rechtzeitig (komplett) weg, blüht sie erst im folgenden Jahr und die Wurzel wird größer.
Stengeldicke
Was haben wir über die Stengeldicke gelernt?
Laut Theophrast ist der Stamm nur fast so dick, wie der des Narthex. Also dem, was sich früher auch Steckenkraut, oder heutzutage Riesenfenchel nennt. Hier können Sie sich ein Foto auf Wikipedia davon anschauen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Riesenfenchel#/media/Datei:Riesenfenchel.JPG
Die Stengeldicke ist erbärmlich im Vergleich zu den Münzen. Engelwurz schneidet da deutlich besser ab. Dennoch wundert es mich, daß die Historiker sich nicht selbst über die kyrenischen Silphium-Prägungen gewundert haben. Denn sie kannten den Riesenfenchel definitiv.
Ein extremer Abstraktionsgrad auf den Münzen störte damals also niemanden.
Dazu noch ein Zitat zum Wuchs der Engelwurz aus Pflanzenwiki: „[…] im zweiten (dritten/vierten) Standjahr bis armdicker Blütenschaft, große Hauptdolde, mehrere Nebendolden, nach der Samenreife absterbend“.
Rötliche Blatt-, Stiel- oder Stengelfarbe
Dieser Nachweis ist sehr leicht zu erbringen. Eigene Fotos aus dem Jahre 2020 belegen das eindrücklich. Bei irgend einem Interpretanten aus dem 19. Jahrhundert las ich sogar das Wort „Pupurroth“. Verzeihen Sie mir, wenn ich die Quelle nicht mehr finde.
Man darf jedoch behaupten; auch „Purpurroth“ wäre ein absoluter Volltreffer. Bis dieser Autor wiedergefunden ist, und seine Behauptung bestätigt, bleibt es jedoch bei rötlich.
Schön sichtbar ist jedoch auch, daß bei der Engelwurz auch die Blattstiele leicht gerillt sind.
Blätter wie Sellerie
„Eppich“ ist der alte Ausdruck für Sellerie. Diesen benutzen die verschiedenen Chronisten fast durchgängig, um die Blätter des Silphiums zu beschreiben. Demnach kann man davon ausgehen, daß hier verlässliche Einigkeit besteht. Ein Attribut also, das nicht mehr angezweifelt werden muß.
Liebstöckel ist nur die zweite Wahl, wenn es um die Ähnlichkeit der Blätter zu Sellerie geht. Engelwurz ist deutlich besser. Schauen Sie sich’s an!
Gelbe Blätter oder Samen
Nein, nichts an der Engelwurz ist wirklich goldgelb. Der Same ist relativ blass und das Blattwerk färbt sich erst mit mit der Reife der Blüten gelb. Es gibt zwar Unterarten der Engelwurz, deren Blüten und Samen zurecht als gelb bezeichnet werden können, aber um diese geht es hier nicht.
Gerhard Rohlfs schreibt in einem Expeditionsbericht von 1869: „Nach Plinius war die Rinde der Wurzel schwarz, länger als eine Elle; wo sie aus dem Boden kam, war eine Tuberusität, welche eingeschnitten einen milchigen Saft ergab, die Samenkörner sind glatt, und fallen mit den gelb vertrocknenden Blättern […]“ Demnach hat er Plinius anders verstanden als ich.
Seine Auffassung wäre jedoch absolut zutreffend. Denn die Blätter der Engelwurz verfärben sich tatsächlich zu diesem Zeitpunkt.
Platte oder blattartige Samen
Auch das ist nicht 100%ig der Fall. Der Same ist auf der Vorderseite tatsächlich platt, aber die Rückseite ist leicht gewölbt und dreifach gerillt. Obwohl hier nur geringfügigst der Kontrast erhöht wurde, gibt das Foto nicht die wirkliche Farbe wieder. Sie ist normalerweise eher blass-gelb-bräunlich.
Dieser Same stammt aus meiner eigenen Ernte, der gelbliche Farbton ist jedoch eher die Ausnahme. Die Farbe der gekauften Samen sehen Sie in einem folgenden Foto mit dem Keimling.
Samen fallen beim Aufgang des Hundssterns
Hier sind wir wieder bei einer völligen Übereinstimmung. In einigen Texten heißt es beim „Frühaufgang“ des Hundssterns. Der Hundsstern ist der Sirius. Er leitet die sogenannten Hundstage ein, die am 23. Juli beginnen (und am 23. August enden).
Die Blütezeit der Engelwurz reicht nach offiziellen Angaben von Juni bis August. Mein Exemplar begann jedoch schon Mitte Mai zu blühen, die Samen fielen also sogar noch etwas vor dem Frühaufgang des Hundssterns, am 23. Juli.
Silphium ist „jährig“ wie der Narthex
Die Engelwurz ist tatsächlich so jährig wie der Narthex. Narthex ist der Riesenfenchel (Ferula Communis). Dieser braucht bis zu 5 Jahre bis zum Austreiben des ersten Blütenstengels.
Bei der Engelwurz ist das genau so. Die Blüten erscheinen erst im zweiten, dritten oder vierten Standjahr. Danach stirbt die Pflanze ab.
Ein weiterer Hinweis, daß mit jährig nicht einjährig gemeint sein kann, ist die Aussage, daß das Silphium im ersten Jahr „gegraben“ wurde. Das Silphium war folglich mindestens zweijährig.
Silphium ist nicht kultivierbar
Auch hierfür gibt es eine einfache Erklärung. Die Samen der Engelwurz verlieren sehr schnell ihre Keimfähigkeit. Fallen sie direkt nach dem Reifen auf geeigneten Boden, keimen sie noch im selben Jahr. Tun sie das nicht, fallen sie in eine Keimruhe, die nur durch sehr kalte oder sehr warme Temperaturen aufgehoben werden kann.
Meine relativ frischen Engelwurz-Samen mußte ich 4 Wochen im Kühlschrank „stratifizieren“, bis sie gekeimt sind. Ältere Samen keimen auch mit Kältebehandlung gar nicht mehr.
Nun hätten die alten Griechen auch Jungpflanzen aus der Kyrenaika ausgraben und umsiedeln können. Doch Engelwurz hat u.A. einen sehr hohen Bedarf an Kalium und Bor (laut Kulturanleitung der Bayrischen Landesanstalt für Landwirtschaft).
Und wenn man sich die fast leuchtend roten Böden der Kyrenaika anschaut, kann man sich leicht vorstellen, daß die Äcker der Peloponnes möglicherweise ungeeignet waren.
Bis zu diesem Foto glaubten Sie sicher, auch dort sei karge Wüste. Aber das Gegenteil ist der Fall. Der Jebel-El-Akhdar wird nicht umsonst mit „Grüne Berge“ übersetzt.
Und glauben Sie mir, daß es dort wirklich so feucht und fruchtbar ist, wie ich behaupte – ich war nämlich schon selber da. Dieses Foto habe ich im Dezember 2006 gemacht.
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Kapitelübersicht:
1.0 Die Silphium-Sensation … das wiederentdeckte Wunderkraut
1.1 Botanische Eigenschaften des Silphiums laut historischen Texten
1.2 Medizinische Wirkungen des Silphiums laut historischen Texten
2.0 Silphium ist Engelwurz – Details der Münzdarstellungen
2.1 Botanische Übereinstimmungen mit Engelwurz
2.2 Engelwurz als Nahrungsmittel und Parfüm
2.3 Medizinische Wirkungen von Engelwurz
3.0 Widersprüche und weitere Erklärungen