3.0 Widersprüche und weitere Erklärungen

Einige Fragen müssen wir dann doch noch klären. Die Antworten mögen überraschen.

Widersprüche
Es gibt nur zwei wirkliche Widersprüche in Bezug auf die historischen Quellen. Hippokrates sagt, das Silphium sei blähungstreibend und schlecht für den Harn. Plinius hingegen, läßt den antiken Arzt Andreas von Karystos das Gegenteil behaupten.

Silphium Münze. Ca. 430 bis 370 vor Christus.
Silphium Münze. Ca. 430 bis 370 vor Christus.

Da beide Ärzte lange vor Christus praktiziert haben, müssen auch beide das echte Silphium gekannt haben. Und auch die Auswirkungen auf ihre Patienten. Demnach wissen wir nur, DASS sich Silphium auf Harn und Verdauung ausgewirkt hat – aber nicht genau wie.

An anderer Stelle wird noch gesagt, daß Silphium nur eine nachteilige Wirkung bei Leuten habe, die nicht daran gewöhnt sind. Laut heutiger ärztlicher Anweisung sollten täglich höchstens 4,5 Gramm Engelwurz-Wurzel eingenommen werden. Liegt hier das Geheimnis in einer Überdosis? Man weiß es nicht.

Ebenfalls nicht eindeutig geklärt
Die Wurzel der Engelwurz ist nicht schwarz – sondern nur rötlich braun. Ebenso sind die Samen nicht goldgelb und auch nicht wirklich blattartig. Wir haben keinen Beweis für eine ‚direkte‘ Wirkung auf Hühneraugen gefunden. Doch davon ist wie gesagt ja auch eigentlich nicht die Rede.
Man gebe sich also mit 60 von 63 Eigenschaften zufrieden, die eindeutig belegt worden sind. Das sind immerhin 95,2 Prozent.

Warum kannten Römer und Griechen Engelwurz nicht?
Weil sie niemals damit gerechnet hätten, die sagenhafte Pflanze nördlich der Alpen zu finden. Engelwurz wurde ohnehin erstmals im 14. Jahrhundert als Medizinalpflanze erwähnt. Vorher kannten sie wahrscheinlich nur die Eingeweihten, nämlich die Urvölker von Sibirien bis Norwegen und rund um die Ostseeküste. Etwa die Nenzen, die Sami, die Lappen usw. Und sicherlich auch etliche norddeutsche „Engelmacherinnen“. Sprich Frauenheilkundige, oder auch Hexen genannt.

Daß Island heutzutage als Hauptverbreitungsgebiet gilt, ist völlig unerheblich. Denn die Insel war bis zum 9. Jahrhundert noch nicht mal besiedelt. Niemand, der nicht da war konnte also auch von nichts wissen.

Daß Caesars Truppen in Germanien zufällig auf die Idee kommen eine Pflanze zu kosten, die mindestens zwei hochgiftigen Gewächsen sehr ähnlich sieht, halte ich für möglich, aber unwahrscheinlich. Gemeint ist der Riesenbärenklau und der Schierling. Letzerer ist tödlich.

Wie kam Engelwurz nach Nordafrika?

Karte von der nordafrikanischen Kyrenaika von 1887.
Karte der Kyrenaika von 1887.

Die gängigste Theorie hängt sich an dem „schwarzen Regen“ auf, der kurz vor dem Erscheinen des Silphiums in der Kyrenaika niedergegangen sein soll. Das ist ein deutlicher Hinweis auf einen großen Vulkanausbruch. Eine durchaus legitime Vermutung, die ich nicht kleinreden möchte. Denn tatsächlich gab es vor 2.800 Jahren einen gewaltigen Ausbruch des Vulkans Hekla auf Island, wie Wikipedia berichtet.

Das würde zeitlich genau passen. Denn wenn das Silphium vor mehr als 2.600 Jahren in der Kyrenaika erstmal wahrgenommen wurde, hätte ein einziger Same fast zwei Jahrhunderte Zeit gehabt, um sich dort großflächig zu verbreiten.

Ich habe da aber zwei andere Ideen. Denn ich kann mir nicht so richtig vorstellen, daß ein Engelwurzsame 4.500 Kilometer in der Atmosphäre bleibt und dann noch in der Kyrenaika keimt.
Anzubieten hätte ich deshalb die Phönizier. Sie waren schon am Beginn des 1. Jahrtausends vor Christus DAS Handelsvolk im gesamten Mittelmeerraum. Sie verhandelten auch alles das, was von der Bernsteinstraße kam.

Der Verlauf der Route zwischen Elbmündung und Adria ist als Handelsweg bereits für die Zeit ab 2.500 v. Chr. nachgewiesen. Von dort aus verschifften die Phönizier (unter Anderem) den wertvollen Bernstein nach Ägypten, Nordafrika oder die Levante. Möglicherweise waren da mal ein paar Engelwurzsamen dabei. Entweder aus voller Absicht, als wohlschmeckendes Gewürz  – oder als blinder Passagier in irgend einer Verpackung oder einem Kleidungsstück.

Noch wahrscheinlicher ist das Gefieder von Zugvögeln. Mein Favorit ist die Löffelente. Nicht nur diese Vogelart verbringt den Winter in der Kyrenaika und kommt häufig in Island vor. Aber Island muß nicht zwingend das Herkunfsland sein. Jeder andere Zugvogel kommt in Betracht, der irgendwo in Nordeuropa startet und zumindest mal Rast in der Kyrenaika macht.

Eine Löffelente in Verbindung mit dem Vulkanausbruch vor 2.800 macht es aber umso interessanter. Denn explodiert plötzlich ihr Lebensraum, muß sie sich früher als gewohnt auf die Reise nach Süden begeben. Sollte ich Recht haben, kennt man nun auch den Monat des Ausbruchs vor 28 Jahrhunderten. Es wäre der August. Denn (vermutlich) erst dann gibt es die ersten reifen Samen auf Island.
Darüber hinaus hält sich die Löffelente genau dort auf, wo die Engelwurz am liebsten wächst. Nämlich an Seen und in Feuchtgebieten.

Wie konnte ein Kaltkeimer in Nordafrika aufgehen?
Auch dafür gibt es eine einfache Erklärung. Der Jebel-El-Akhdar ist ein Gebirge von bis zu 880 Meter Höhe. Im Dezember 2006 fror ich mir in 250 Kilometer Entfernung und 600 Meter tiefer den Hintern bei 2° Celsius in einem Zelt ab.

Die saloppe Ausdrucksweise soll nicht darüber hinwegtäuschen, daß (sofern ich mit der Löffelenten-Theorie richtig liege) dort optimale Bedingungen für das sofortige Keimen eines frischen Engelwurzsamens geherrscht haben dürften. Also im Sommer des Vulkanausbruchs von vor 2.800 Jahren.
Trotzdem bleibt das reine Hypothese. Aber immerhin neu und aus einem anderen Blickwinkel gedacht.

Wie konnte das Silphium/Engelwurz aussterben?
Da Engelwurzpflanzen maximal 4-jährig sind und nur einmal blühen können, liegt die Lösung auf der Hand. Vier zu trockene Jahre in Folge machen der Engelwurz den Garaus. Denn es gibt danach keinerlei Samen mehr.

Die Begründung antiker Autoren, man hätte das Vieh das Silphium abfressen lassen, um den Preis hochzutreiben halte ich für unwahrscheinlich. Ebenso, daß feindliche Invasoren die Bestände vernichtet hätten. Niemals findet man alle verstreuten Pflanzen. Sie sind versteckt in unzugänglichen Bachläufen, Auen, Schluchten oder Orten, an denen möglicherweise bis heute noch niemand gewesen ist.

Demnach muß das Aussterben an den klimatischen Bedingungen gelegen haben. Das muß nicht unbedingt (nur) an der angesprochen Trockenheit gelegen haben. Auch starke Winde, die in der Kyrenaika vorherrschten könnten das Aussterben ausgelöst haben. Die Samen könnten dann genau dort hingeweht worden sein, wo sie erst gar nicht keimen konnten. Nämlich ins Meer oder mitten in die Wüste.

Passiert das in der Phase, in der die frischen Samen noch nicht in Keimruhe verfallen sind, wird das Szenario noch wahrscheinlicher. Zwei Monate trockene Winde nach der Reife der Samen reichen also aus, um sie eben nicht mehr im gleichen Jahr keimen zu lassen. Spätestens nach vier Jahren ist die Spezies dann ausgestorben, sofern es im Winter auch keinen Kältereiz mehr für die Keimung im nächsten Jahr gibt.

Ich rekapituliere; Eine Pflanze, die maximal 4 Jahre alt wird muß aussterben, wenn 4 Jahre lang keine Samen keimen können. Damit haben wir eine logische Lösung gefunden – denn Aussterben kann in Höchstgeschindigkeit stattfinden.

Außerdem berichtet ja die Biologische Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft, daß die Engelwurz mit sich selber unverträglich ist und Anbaupausen von mindestens sechs Jahren eingehalten werden sollten [Zitat aus Kapitel 2.2]. Sechs Jahre lang wuchs also in der Kyrenaika auf dem selben Boden keine neue Pflanze mehr! Die Vermehrung war also schon aus biologischen Gründen begrenzt.

 

Was bedeutet das alles?

Es bedeutet, daß Sie Zeuge einer chancenträchtigen Wiederentdeckung waren. Aber sollte ich mich irren, zumindest der Entdeckung einer Pflanze, die sogar noch wirkmächtiger ist, als das antike Silphium.

Kein Wort stand in den historischen Texten von der Pest oder Krebs in Bezug auf Silphium. Auf jeden Fall nicht explizit. Engelwurz eröffnet ungeahnte Möglichkeiten. Sowohl für die Medizin, die Pharmaindustrie und insbesondere die Forschung.

Der Mythos Silphium scheint enzaubert – der Nutzen daraus könnte buchstäblich wunderbar sein.

 

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Kapitelübersicht:
1.0 Die Silphium-Sensation … das wiederentdeckte Wunderkraut
1.1 Botanische Eigenschaften des Silphiums laut historischen Texten
1.2 Medizinische Wirkungen des Silphiums laut historischen Texten
2.0 Silphium ist Engelwurz – Details der Münzdarstellungen
2.1 Botanische Übereinstimmungen mit Engelwurz
2.2 Engelwurz als Nahrungsmittel und Parfüm
2.3 Medizinische Wirkungen von Engelwurz
3.0 Widersprüche und weitere Erklärungen

 

 

 

 

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